Kolumne

Plädoyer für eine Modernisierung des Wachstumsbegriffs

Glauben wir den Wirtschaftspolitikern der etablierten Parteien, dann gilt: Je mehr Wachstum, desto besser! Diese Ideologie propagiert letztlich so etwas wie grenzenloses Wachstum —“ und das in einer Welt mit begrenzten Ressourcen. Während die FDP das Wirtschaftswachstum als neues Kernthema (wieder)entdeckt hat, stellen die Piraten den Wachstumsbegriff der letzten Jahrzehnte in Frage und möchten ihn gezielt reformieren.

In einem Positionspapier zu Ihrem Wahlprogramm für die Landtagswahl fordert die Piratenpartei NRW eine Erweiterung des Begriffs Wirtschaftswachstums um qualitative Parameter wie Nachhaltigkeit und Gemeinwohl. Der derzeitige Wachstumsbegriff betont einseitig den Konsum von Waren und Dienstleistungen und lässt Leistungen unberücksichtigt, die der Gemeinschaft dienen (z.B. Kindererziehung oder ehrenamtliche Tätigkeiten). Dadurch wird ein öffentliches Bewusstsein gefördert, dass das Wohlergehen der Bevölkerung auf die messbare ökonomische Leistungsfähigkeit reduziert.

Definition und Folgen des derzeitigen Wirtschaftswachstums

Das Wirtschaftswachstum eines Landes wird in der Regel an seinem Bruttoinlandsprodukt (BIP) gemessen. In die Berechnungen des BIP fließen alle Waren und Dienstleistungen ein, die im jeweiligen Land für den Endverbrauch hergestellt werden. Steigt das BIP von einer Zeitperiode auf die Nächste spricht man von Wirtschaftswachstum. Beim „realen Wirtschaftswachstum“ ist der Wert inflationsbereinigt. Dies verdeutlicht auch, warum die jeweiligen Regierungsparteien immer ein Interesse daran haben, eine niedrige Inflationsrate zu „schönen“ – denn dies steigert das reale Wirtschaftswachstum.

Doch was genau ist unsere Kritik am herrschenden Wachstumsbegriff?

Zum einen gibt es keine qualitative Unterscheidung der Waren- und Dienstleistungsangebote, die den Output unserer Gesellschaft in Relation zum Nutzen für das Gemeinwohl stellt. So werden z.B. die Waffenproduktion oder Krankheitskosten in gleicher Weise wie Infrastrukturmaßnahmen berücksichtigt. Das heißt auch: Je kränker wir werden, desto mehr wächst unsere Wirtschaft. Auf der anderen Seite bleiben unbezahlte Leistungen unberücksichtigt, von denen wir als Gesellschaft profitieren. Der privat versorgte Gebrechliche erhöht das Wirtschaftswachstum nicht – im Gegensatz zum Platz in einem Pflegeheim.

Zum anderen wird jede Form des Konsums zum Wachstumsmotor. Die (Welt-)Wirtschaft wächst wesentlich schneller, wenn wir uns alle zwei Jahre ein neues Auto, einen neuen Fernseher, einen neuen Computer oder ein neues Handy kaufen, als wenn wir dies nur alle fünf oder 10 Jahre tun. In Kombination mit dem stetig steigenden Profitstreben der Großkonzerne werden dadurch zunehmend Waren produziert, die nur eine begrenzte Lebensdauer haben und deren Komponenten zum Teil nur schwer austauschbar sind. Aus der Herausforderung, Produkte mit möglichst langer Haltbarkeit zu schaffen, die im besten Falle „nicht kaputt zu kriegen“ sind, wurde die Aufgabe, Produkte mit einer möglichst planbaren Vergänglichkeit zu kreieren („geplante Obsoleszenz“).

Damit der weltweite Wettbewerb um Wachstumsanteile nicht zum ökologischen Super-Gau führt, sollten künftig auch diejenigen Produktosten bei der Preiskalkulation berücksichtigt werden, die nachfolgende Generationen belasten: die Endlichkeit bestimmter Ressourcen, die Umweltbelastung beim Transport und die vollständigen Entsorgungskosten. Andernfalls reisen auch weiterhin Bestandteile von Lebensmittel- oder Textilprodukten mehrfach um die ganze Welt —“ und zwar nicht um Überleben zu sichern, sondern um ein übersteigertes Konsumbedürfnis zum Schnäppchenpreis zu befriedigen. Und der von unserer „Wohlstandsgesellschaft“ in weiterhin steigendem Maße produzierte Elektroschrott (wie z.B. ausgemusterte Computer und Handys) wird in Afrika endgelagert und vergiftet dort Mensch und Natur.

Wirtschaftswachstum zwischen gestern und morgen

Im Jahre 1972 veröffentlichte der Club of Rome seinen Report „Die Grenzen des Wachstums“, der erstmalig die Unvereinbarkeit der Ideologie des unbegrenzten Wirtschaftswachstums mit den endlichen Ressourcen unserer Erde in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit rückte. Doch warum hat diese Streitschrift wider den Wachstumswahn heute – nach 40 Jahren – das Denken bzw. Handeln der Wirtschafts- und Staatenlenker kaum beeinflusst? Warum glaubt man immer noch mit einem völlig undifferenzierten Wachstumsbegriff dem Gemeinwohl zu dienen?

Der Blick klärt sich, wenn wir auf die Entstehung und die wirtschaftliche Motivation des „modernen“ Wirtschaftswachstums schauen. Industrialisierung, technischer Fortschritt und Massenproduktion ermöglichten zu Beginn des letzten Jahrhunderts vielen Menschen, am allgemeinen Wohlstand teilzuhaben. Viele Waren, die vorher als Luxus galten, waren für eine Mehrheit erschwinglich geworden. Das produzierende Gewerbe erlebte einen Boom, der erst durch die Weltwirtschaftskrise jäh gestoppt wurde.

Nach dem 2. Weltkrieg gründeten sich dann Roosevelts—˜ New Deal und das Erhard—˜sche Wirtschaftswunder erneut auf einer Wachstumsideologie, die den Konsum materieller Güter in den Mittelpunkt der Wirtschaftspolitik stellte. Damals jedoch hatten weite Teile der Bevölkerung einen aus heutiger Sicht geringen Lebensstandard und Themen wie die nachhaltige Begrenzung der Ausbeutung unserer endlichen Ressourcen waren weit weg. Die Erkenntnis, dass ein ausschließlich auf Konsumsteigerung ausgerichtetes Wirtschaftswachstum nachhaltig unsere Lebensgrundlagen zerstört, reift nur sehr langsam.

Ökonomie, Ökologie und Gemeinwohl als gleichrangige Gesellschaftsziele

Das Streben nach Wirtschaftswachstum darf nicht zu einem Selbstzweck werden, indem es wahllos alles misst und wägt, was sich „verbrauchen“ lässt. Dadurch verkommt Wachstum zu einer Art Konsumbarometer. Wirtschaftswachstum kann aber erst dann zu einem gesellschaftlich akzeptablen Kernziel werden, wenn es auch dem Gemeinwohl dient —“ also die Zufriedenheit breiter Bevölkerungsschichten erhöht. Dazu hat das Wachstum der letzten etwa 15-20 Jahre nachweisbar nicht mehr beigetragen. Wenn sich z.B. die Behandlungskosten psychischer Belastungsstörungen im letzten Jahrzehnt vervielfacht haben, kann dies schlecht als Erfolgs unserer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit bezeichnet werden.

Die dringend notwendige Begrenzung unseres Ressourcenverbrauchs wird aber nicht allein mit mehr Produktion bei weniger Energieverbrauch und Umweltverschmutzung erreicht werden können. Jede Art von Produktionswachstum erfordert auch mehr Rohstoffe, deren Ausbeutung wiederum Umweltzerstörung nach sich zieht.

Wenn wir also unseren jetzigen Lebensstil fortsetzen, keinen Verzicht üben, unsere Ansprüche nicht herunterschrauben wollen, dann sollten wir uns auch nicht mehr über zunehmende Verschuldung, Verarmung der Wachstumsverlierer, leer gefischte Meere, vergiftete Landstriche und ansteigende Meeresspiegel beklagen. Wie viel Krisen brauchen wir eigentlich noch, bis eine Mehrheit begreift, dass Glück und Lebensqualität keine Fragen des Konsumniveaus sind.

Mahatma Gandhis Mahnung, dass die Welt groß genug ist für die Bedürfnisse aller, aber zu klein für die Gier Einzelner, ist heute aktueller denn je. Bedauerlicherweise hat diese Erkenntnis auch über 60 Jahre nach seinem Tod weder das politische Handeln noch das Anspruchsverhalten des Einzelnen maßgeblich beeinflusst. Unser heutiger Konsumbegriff, der auf der herrschenden Wirtschaftswachstums-Ideologie beruht, führt sowohl zum Interessenkonflikt zwischen Ökonomie und Ökologie als auch zu Verteilungskämpfen und Wachstumsverlierern. Die Piratenpartei NRW ist davon überzeugt, dass eine Wirtschaftspolitik der Zukunft nur dann nachhaltigen Bestand haben kann, wenn sie andere Zielparameter definiert als ein rein quantitatives Wirtschaftswachstum.

[Autor: Himar Benecke]

3 Kommentare zu “Plädoyer für eine Modernisierung des Wachstumsbegriffs

  1. Miguel Angenehm

    Sehr schöne Doku zum Thema geplante Obsoleszenz:
    http://www.youtube.com/watch?v=mXTEgDXdoLA

  2. Miguel Angenehm

    Ein interessanter Ansatz ist das Bruttonationalglück in Bhutan:
    http://de.wikipedia.org/wiki/Bruttonationalgl%C3%BCck

  3. Leberwurstpizza

    Sehr schönes Plädoyer für einen Abschied vom amoralischen Fetisch Wachstum.

    Rund um das Thema kann ich auch wärmstens das Buch „Die Ökonomie von Gut und Böse“ von Tomas Sedlacek empfehlen.

    Kulturzeitbeitrag Sedlacek:
    http://www.youtube.com/watch?v=JGRMP_ShKZY

    http://www.zeit.de/2012/05/L-P-Sedlacek/seite-1

    Ich persönlich halte ein bedingungsloses Grundeinkommen für die richtige Strategie, um Ökonomie, Ökologie und Gemeinwohl wieder in Harmonie zu bringen.

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