Es gilt das gesprochene Wort
Guten Morgen, liebe Piratenfreunde!
Manchmal ist es ja hilfreich, sich zu fragen, warum braucht es uns eigentlich?
Nun, wer zufällig vorletzten Donnerstag die Debatte um unseren Antrag zu TTIP im Landtag verfolgt hat, der weiß, warum.
Die Altparteien sind gerade dabei, ausgerechnet dieses Thema auf ganzer Linie zu verkacken.
Naja, vielleicht nicht die Grünen, da kam gutes Zeug vom grünen Redner, aber wir kennen das ja, wenn’s wirklich drauf ankommt, dann sind die Grünen immer an Koalitionszwang erkrankt.
Das muss echt ansteckend sein, das gilt jetzt ja auch für die SPD.
Da kommt mit TTIP so eine ganz neue Klasse von Abkommen daher, das mit einem Dreiklang aus Marktförderung, Eigentumssicherung und Pfeif-auf-die-Demokatie ausschließlich den Interessen transnational operierender Konzerne dient, und die SPDCDUFDP sagt, schau’n wir mal.
Schau’n wir mal, was die Ausgestaltung des Vertragswerks bringen wird.
Leute, es geht nicht um Chlorhühnchen oder Genmais!
Es geht um nicht mehr und nicht weniger als die Aushebelung demokratisch entstandener Gesetze und Verordnungen aus reinen Profitinteressen!
Wer will, kann gerne die recht kurze Geschichte der Freihandelsabkommen zurückverfolgen, sie oder er wird dann –
vorausgesetzt die Intelligenz reicht aus – ein Entwicklungsmuster erkennen, das Angst und Bange macht.
TTIP kommt in ganz großem Stil daher, es ist der bislang massivste Anschlag auf unsere politische Autonomie, also auf unsere Bürgerrechte und damit auf unsere Freiheit.
Und da reicht es längst nicht mehr, wie Christian Lindner in seinen Kolumnen ein bißchen mit dem Konzernkapitalismus zu schimpfen und sich ansonsten seinen Liberalismus als alleinselig-machende Ideologie schönzuschreiben.
Also alles andere als Widerstand gegen TTIP ist grob fahrlässig!
Das wissen wir Piraten. Und das wussten wir schon bei ACTA. Und da waren und sind wir uns alle einig.
Das wäre übrigens ein toller Plakatspruch:
„TTIP nein danke, da sind wir ganz präservativ.“
Und jetzt sollen wir einen Richtungsstreit haben?
Bullshit, Leute, Bullshit.
Also ich kann mit diesem platten Rechts-Links-Muster echt nix mehr anfangen.
Ein Streit um solche Richtungen würde ja voraussetzen, dass man zu den Richtungen Orientierungen hat, dass es ein entsprechendes Koordinatensystem gibt.
Bei Licht betrachtet ist das jedoch nicht der Fall. Denn die alten Strukturen aus der Industrie-gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts sind dabei zu zerfallen.
Um sich das klar zu machen, muss man nicht unbedingt nach Detroit fahren, es reicht ein Besuch z.B. in Offenbach oder Marl.
Wir sind schon mittendrin im Umbruch zur Informations- und Wissensgesellschaft, es ist uns selber nur zu selten bewusst.
Und das mit dem Zerfall gilt dann auch für das alte eindimensionale politische Links-Rechts-Schema und die dazugehörigen Worthülsen.
Also das – Achtung Fifities – mit den Arbeitgebern, den Eigentümern der Produktionsmittel und des Kapitals mit Flankenschutz vom konservativen Kleinbürgertum gleich Rechts,
und Links gleich kapitallose Werktätige, die gezwungen sind, ihre Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt feilzubieten.
Das Links-Rechts-Schema ist aber immer noch sehr wirkmächtig, es hält viele Leute in einer Denkklammer, denn leider gerät in Zeiten der Krisen und Umbrüche so manches zuverlässig in den Griff der medialen Erinnerungsindustrie, so auch unsere Partei.
Man will sich auf das verlassen können, was man kennt.
Genau das ist aber der Fehler.
Für die Inangriffnahme der Probleme der Zukunft können nämlich nicht dasselbe Denken und dieselben Muster Anwendung finden, die erst zu diesen Problemen geführt haben.
Und oft vernachlässigt oder gar vergessen wird die Tatsache, dass gesellschaftliche, soziale und politische Umbrüche immer einhergehen mit erheblichen Veränderungen in der Medienlandschaft.
Aus dem Blickwinkel der jeweils vorherrschenden Medien betrachtet lassen sich die Reformation, die Renaissance, die bürgerliche Revolution, die Aufklärung, die Erfindung der Idee des Nationalstaats sowie die industrielle Revolution als Wirkungen der Gutenberg-Galaxis (McLuhan), der Erfindung und massiven Verbreitung der Technik des Buchdrucks verstehen.
Wir sind aber auf halbem Weg in die Turing-Galaxis, ein anderes Wort für Informations- und Wissensgesellschaft.
Somit sind für die Zukunft, für die Informations- und Wissensgesellschaft sämtliche auf der medialen Technik des Buchdrucks basierenden Strategien, Ideologiesysteme und Ideologieelemente, kurz Ideologeme, die aus der Industriegesellschaft stammen, entweder hinfällig und nicht zielführend oder gehören zumindest auf den Prüfstand.
Allein die alten greifen nicht mehr. Dazu gehören insbesondere der Marxismus, der Sozialismus, der Kommunismus, der Anarchismus, der Liberalismus, der Neoliberalismus sowie der Libertarismus.
Als auch Kombinationen daraus, das Label „sozialliberal“ sowie der Begriff „Soziale Marktwirtschaft“.
Gleichwohl besitzen die alten Denk- und Ideensysteme und -ismen genügend Elemente, an denen und aus denen sich neue Betrachtungen konstruktiv entwickeln lassen können.
Aber sucht mal in den alten Denkschemata z.B. den Begriff Nachhaltigkeit. Fehlanzeige!!
Es braucht also was Neues. Das müssen wir geeinsam entwickeln.
Z.B. aus der Partei und der praktischen Politik unserer vier Landtagsfraktionen und hoffentlich bald der EU-Fraktion und der hoffentlich sehr vielen Kommunalparlamente heraus.
Wir sind – und da stimmen sicher alle zu – eine durch und durch systemkritische Partei.
Dann lasst uns auch so streiten, Konzepte entwickeln und politisch handeln.
Und wenn ich selbst mal in Versuchung bin, in die alten Muster zurückzufallen?
Dann versuche ich mir vorzustellen, was einer der für Deutschland und die EU am TTIP-Verhandlungstisch sitzende männliche Mitdreißiger mit dem super-markt-liberal gespülten Hirnchen dazu und zu uns Piraten sagen würde.
Leute, der würde sich da einen drauf ablachen.
Und ich möchte verdammt nochmal, dass diese technokratischen Fischgehirne aufhören zu lachen.
Also packen wirs an. Führen wir die Debatten um Konzepte und Richtungen, streiten wir uns darüber, denn eine Partei ohne konstruktiven Streit ist keine Partei.
Aber bitte ohne narzisstische Selbstdarstellungen und Alleingänge.
Vielen Dank.
0 Kommentare zu “Rede von Joachim Paul auf dem LPTNRW141 in Bielefeld”