Der Autor: Sascha Köhle (AKA @sakoelabo)
Sascha Köhle ist seit Anfang 2011 Mitglied der Piratenpartei. Er schreibt u.a. für die AG Außen- und Sicherheitspolitik, ist kommunalpolitisch bei den Hertener Piraten aktiv und sitzt seit Mai 2014 als sachkundiger Bürger für die Gruppe Piraten in mehreren Ausschüssen des Kreistags Recklinghausen.
#Leere Versprechungen – Hartz IV – Teil 09 – Der gesellschaftliche Kahlschlag
„Nur wer arbeitet, soll auch essen“ – dieses Zitat aus dem Mund des damaligen Arbeitsministers Franz Müntefering (SPD) aus dem Jahr 2006 klingt mir noch heute in den Ohren. Ebenso die Worte des Ex-Bundeskanzlers Schröder: “Es gibt kein Recht auf Faulheit“ aus dem Jahr 2001. Es waren die Worte, die mich letztlich mit der Sozialdemokratie in unserem Land haben brechen lassen, später auch mit den anderen Altparteien, welche diese Art von Politik fortsetzten.
Alleine den Satz, sozial sei, was Arbeit(splätze) schafft, haben neben Angela Merkel (CDU), Guido Westerwelle (FDP) oder Jürgen Rüttgers (CDU) noch viele andere Altparteien-Politiker von sich gegeben. Es ist ein Satz, der sich im Ursprung auf Alfred Hugenberg zurückführen lässt, Politiker der Deutschnationalen Volkspartei und der Wegbereiter des Aufstiegs der
Nationalsozialisten.
Als das Hartz4-System vorbereitet und installiert wurde, fand auch im Duktus der beteiligten Politiker ein Wechsel statt, der sich auf die Medien übertrug und sich tief in den Köpfen vieler Deutscher einnistete. Vorher gab es in den Köpfen eine gewisse Unterscheidung zwischen Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern – diese fiel nun, da es eine Vereinheitlichung gab, nun, da von Seite der Politiker häufig Begrifflichkeiten und Formulierungen fielen, die Empfänger von Hilfszahlungen verbal in die Nähe von Parasiten und Taugenichtsen rückten, fort.
Mit einem mal war da pauschal nur noch der „Hartzer“. Ein faules Etwas, welches seinen dicken Hintern den ganzen Tag zwischen Couch und Kühlschrank hin und her schiebt, die Kinder und die eigene Körperpflege vernachlässigt und die „Stütze“ eh nur in Bier und Zigaretten investiert.
In genau diese Kerbe schlug 2008 der Ex-Finanzminister und spätere SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück. Auch das habe ich nicht vergessen.
Es sind diese Arten von verbalen Attacken gegen Menschen, die bei so vielen Mitmenschen Vorurteile in die Köpfe hämmern. Die es überhaupt erst möglich machen, dass sich für schlechte Fernsehunterhaltung der Begriff „Hartz4-TV“ etabliert hat. Die ermöglichen, dass man Menschen, die dank der von neoliberalen Politikern aller Regierungen seit Schröder in den Keller geschickten Lohnniveaus in Deutschland Vollzeit für Hungerlöhne arbeiten, obendrein noch sozial ausgrenzen und sie einem diskriminierenden Menschenbild unterwerfen.
Viele derer, die im Betrieb, in der Kneipe, bei Feiern oder daheim über „die faulen Hartzer“ lästern, können sich nicht einmal im Ansatz vorstellen, wie nahe sie selbst diesem Status sind, oder dass ihr Gegenüber vielleicht gar einer dieser „Harzer“ ist. Wenn sich derjenige bekennt, schaltet man dann peinlich berührt in den „naja – du bist ja nicht so“-Modus um, geradezu so als gäbe es „gute Harzer“ und „böse Harzer“.
Zum Beispiel den Arbeitskollegen, der die „Asi-Harzer“-Witze überhaupt nicht lustig findet, weil er im Gegensatz zu den Kollegen, die mit ihren 1800 € brutto einigermaßen über den Monat kommen, damit nicht auskommt – er hat nämlich zwei kleine Kinder und eine Frau, die nicht Vollzeit arbeiten gehen kann. Also muss er aufstocken, obwohl er genauso wie seine lästernden Kollegen jede Woche 40 Stunden plus Überstunden arbeitet.
In der Callcenter-Branche, in der ich persönlich lange Jahre gearbeitet habe, sehe ich heute Teamleiter-Gehälter, die z.T. erheblich unter dem liegen, was ich vor knapp zehn Jahren noch verdient habe. Ich bekomme auch häufig von Seiten der betroffenen Arbeitnehmer mit, dass Unternehmen (IT, Dienstleister, Krankenhäuser, Bauunternehmen, etc.) ganze Abteilungen in neue Gesellschaften auslagern, um von diesen die benötigten Leistungen zu geringeren Kosten wieder einzukaufen. Wer nicht bereit ist, seinen Altvertrag aufzulösen und künftig für weitaus schlechtere Konditionen den selben Job zu machen, der fliegt halt raus.
Wenn seine Arbeit nicht ohnehin komplett nach Indien, Südafrika oder sonstwohin
ausgelagert wird.
Ursprünglich stand hinter der Idee des Hartz4-Regelsatzes die Idee, dass jemand, der einen Vollzeitjob hat, finanziell nicht schlechter dastehen soll, als ein Hartz4-Empfänger.
Doch die verheerenden Folgen, die die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und in den Unternehmen seither bezüglich der Reallöhne und der Arbeitsbedingungen mit sich gebracht haben, führen diese Vorstellung ad absurdum. Mehr als ein Viertel der Arbeitnehmer in Deutschland arbeitet mittlerweile im Niedriglohnsektor, der kommende Mindestlohn mit seinen mageren 8,50 € pro Stunde ist zementierte Armut, gerade dann, wenn davon mehrere Menschen ernährt werden müssen.
Als ich ein Kind war, gab es bei der Kirche einmal am Tag warme Suppe für die Obdachlosen der Stadt. Dreißig Jahre später finde ich mich an einem Ort wieder, an dem zehn Prozent der Geschäfte leer stehen, Ein-Euro-Läden, Second-Hand-Boutiquen, Caritas-Läden, Tafeln und Havarie-Märkte dafür aber wie Pilze aus dem Boden schießen.
Als ich ein Kind war, mied die Mittelschicht Aldi & Konsorten wie der Teufel das Weihwasser, um ja nicht in den Ruch der Unterschicht zu geraten. Heute kaufen sie bei eben diesen Discountern ein – weil sie es müssen. Und die Zahl derer, die aus finanzieller Not heraus zu den Tafeln und anderen Orten der Wohltätigkeitsindustrie ziehen müssen, wird immer größer. Vielerorts können Sozialstationen mit dem Andrang der Bedürftigen nicht mehr mithalten.
Was also, frage ich mich, ist im Rahmen der Hartz-Reformen, die von Politikern der großen Koalition als „Rettung Deutschlands aus finsterster wirtschaftlicher Not“ gefeiert wird, aus unserem Land geworden? Was ist besser geworden, außer der Konkurrenzfähigkeit einer Wirtschaft, die auf Billiglöhnen, Exportüberschüssen und den Schulden ihrer Abnehmerländer aufbaut?
Meine Generation, die heute 35-40jährigen, werden diesen wirtschaftlichen Radikalschnitt mit einem hohen Maß an Altersarmut bezahlen, das ist schon heute sicher.
Wenn ich mir die Lage im Kreis Recklinghausen, in welchem ich politisch aktiv bin, ansehe, so stelle ich (anhand des Jobcenter-Reports 2014) fest:
– 10 von 12 Gemeinden im Kreis haben eine Arbeitslosenquote zwischen 11,1 bis 12,8 Prozent
– über 70.000 Menschen im Kreis sind Leistungsbezieher gem. SGB II (das sind
11,5% der Einwohner des Kreises!), 71,4% davon wären erwerbsfähig
– 18.500 Kinder unter 14 Jahren leben in Haushalten im Leistungsbezug – das ist
jedes vierte Kind im Kreisgebiet
– fast jede vierte Bedarfgemeinschaft ist eine alleinerziehender Familie
– der Haushalt der Jobcenter im Kreis Recklinghausen für Eingliederungsleistungen lag 2014 bei 34,9 Millionen Euro
Was das für die Kreisstädte bedeutet, ist relativ schnell zusammengefasst. Der
Kaufkraftmangel belastet die lokale Wirtschaft, die Kosten des Sozialsektors, der sich mit den Empfängern von Hartz4-Leistungen beschäftigt, belastet die Haushalte des Kreises und seiner Kommunen schwer. Zusätzliche Negativfaktoren wie z.B. der kommunale Stärkungspakt, welcher die Städte unter noch stärkeren Finanzdruck setzt, machen es den Kommunen fast unmöglich, in irgend einer Weise sinnvoll gegenzusteuern. Währenddessen doktern die Jobcenter an den Symptomen eines kranken Systems herum, ohne sichtbare Verbesserungen herbeiführen zu können – die benötigten Jobs sind schlicht und einfach nicht da!
Der gesellschaftliche Zusammenhalt in unserem Land ist in den vergangenen zehn Jahren unter Hartz4 sicherlich nicht besser geworden. Eine tiefe Verunsicherung ist vielerorts eingezogen. Eine profunde Angst vor dem Herausfallen aus dem „Mittelstand“ von denen, die „noch dazu gehören“. Resignation und Gesellschaftsmüdigkeit von jenen, die bereits herausgefallen sind und den Weg zurück nicht schaffen. Wirkliche Gegenwehr ist nur von wenigen zu erkennen.
In diesem Klima gedeihen populistische Umtriebe und der Zuspruch der vielen verunsicherten Menschen zu eher rechtsgerichteten Gruppierungen.
Hartz 4 war eben nicht richtig. Es war gesellschaftspolitisch eine absolute Katastrophe, die den sozialen Frieden beschädigt, eine überbordende Bürokratie erschaffen und hunderttausende Menschen ins Abseits manövriert hat. Darüber hinaus hat diese Reform reale Menschenleben gekostet. Das, was Hartz4 angerichtet hat, ist eines so reichen Landes wie Deutschland unwürdig – Hartz4 gehört auf den Gerümpelhaufen der gescheiterten wirtschaftlich-sozialen Experimente.
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