Düsseldorf, 15.05.2015
Er ist gelungen, der ungelenke Spagat zwischen der wirtschaftlichen Verwertbarkeit der jüngeren G8-Abiturienten und dem erträglicheren Lebensraum Gymnasium. Am 13. Mai stimmte der Schulausschuss des Düsseldorfer Landtags Änderungen der Ausbildungs- und Prüfungsordnung für die Sekundarstufe I zu.
Ein Pyrrhus-Sieg für die Nordrhein-westfälische Bildungslandschaft.
Schauen wir mal zurück.
War in der Zeit des Nationalsozialismus noch die Aufrüstung der Wehrmacht durch früher zur Verfügung stehende Offiziersanwärter der Grund, das in der Weimarer Republik eingeführte 9-jährige Gymnasium in ein 8-jähriges zu wandeln, so war 2003 die frühere wirtschaftliche Verwertbarkeit des ‘Humankapitals’ Abiturient der Hauptgrund. Die Wirtschaft sollte auf im Durchschnitt ein Jahr jüngere Berufseinsteiger mit Abitur bzw. mit abgeschlossenem Studium zurückgreifen können.
Die Erhöhung der Lebensarbeitszeit als Antwort auf die schrumpfende Gesellschaft sollte nicht nur am Ende eines Arbeitslebens (späterer Renteneintritt), sondern auch zu Beginn eines Arbeitslebens erfolgen (Ich gehe an dieser Stelle nicht weiter darauf ein, dass das ein rein quantitativer Lösungsansatz ist, der alten Denkmustern geschuldet ist.)
Die kürzere Schulzeit sollte jedoch nicht zu einer Qualitätsminderung und Entwertung des Abiturs führen. Um dieser Forderung gerecht zu werden, wurde der Unterrichtsanteil eines ganzen Schuljahres auf die verbleibenden acht gymnasialen Schuljahre verteilt, oftmals mit deutlicher Belastung der höheren Jahrgänge, um die unteren Jahrgänge nicht zu stark zu fordern.
Die um bis zu 20% erhöhte Wochenstundenzahl stand von Anfang an unter heftiger Kritik. Es wurde hierbei vielfach vom Diebstahl der Kindheit gesprochen.
Diese ‘Mission Impossible’ – kürzere Schulzeit, keine Lernstoffreduzierung, keine signifikant höhere Belastung für Schüler/innen – wurde durchgedrückt. Im Jahr 2005 startete das Turbo-Abi.
Die Wirtschaft und die Rentenmathematiker behielten in einem doch eigentlich pädagogisch und sozial zu bewertendem Politikbereich die Oberhand.
Nie wieder ein Oberprimaner. Hans Pfeiffer (mit drei f), der die Schule wegen der Freude an der Schule besuchte, starb posthum mit. (Film: Die Feuerzangenbowle mit Heinz Rühmann)
In der Folge von G8 wurden Schüler in ein zeitlich enges Lernraster gezwängt. Neben der Schule, den Hausaufgaben und den Stunden für Übung und Vorbereitung blieb den Schülern nur noch wenig Zeit für die Teilnahme am sozialen und gesellschaftlichen Leben – und für Muße.
Endete der Unterricht vor der Einführung von G8 meist gegen 13:00 Uhr, so kamen Schüler im G8 an mehreren Wochentagen erst kurz vor 16:00 Uhr aus der Schule.
Vereine bemerkten einen deutlichen Rückgang der jugendlichen Mitglieder. Die Zahl der ehrenamtlich engagierten Schüler sank. Musik und Kunst in der Freizeit wurden Luxus. Gemeinsame Familienfreizeit wurde zur Ausnahme.
Zeit zu Bummeln und für Müßiggang hatten die Schüler fast keine mehr. Eine Besinnung auf sich selbst und die Reflexion ihrer Lebenswirklichkeit war Schülern kaum mehr möglich.
Aus Schülern waren Lernroboter geworden.
Die negativen Effekte des Turbo-Abis für die Gesellschaft und insbesondere für die betroffenen Schüler und deren Familien wurden lange Zeit von den Befürwortern von G8 ignoriert, obwohl es viele Stimmen gab, die diese negativen Folgen frühzeitig beschrieben.
(Nach einer repräsentativen EMNID-Umfrage im Jahr 2012 wünschten 79 Prozent der Eltern eine Rückkehr des Gymnasiums zu G9 und eine Verringerung der Wochenstundenzahl.)
Das ARD-Fernsehen zeigte am 23. August 2014 eine Reportage zum Thema „Warum das Turbo-Abi G8 auf der Kippe steht“.
„Die größte Bildungsreform seit Jahrzehnten ist nach Ansicht der Kritiker vollkommen gescheitert. Die wichtigsten Vorwürfe: Zu viel Schulstress, zu wenig Freizeit, zu wenig Wiederholung und Vertiefung, zu wenige außerschulische Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten – und vor allem: kein nachhaltiges Wissen. Der nur oberflächlich angelernte Stoff hält gerade bis zur nächsten Klassenarbeit, wird dort zu Papier gebracht – und danach für immer vergessen. So ist das Turbo-Abi zum Unwort geworden. Nicht nur bei der Mehrzahl der Schüler und Eltern, sondern auch bei immer mehr Lehrern.”
ARD Exclusiv vom 23.08.2014 (30 min)
2010 wurde erstmals versucht, auf die massiven Beschwerden einzugehen.
Eine Wahlfreiheit für Gymnasien wurde angeboten. Gymnasien durften entscheiden, ob sie G8 oder G9 anbieten.
Bei dieser Wahlfreiheit waren jedoch einige G8-Wesensbestandteile im neuen G9 verankert (hohe Wochenstundenzahl mit der Folge Nachmittagsunterricht, Pflicht zur 2. Fremdsprache ab Klasse 6), sodass sich nur ca. jedes 50. Gymnasium für G9 entschied.
Hinzu kam, dass diese vergiftete Wahlfreiheit nur die Lehrer und die Eltern der aktuellen Schüler nutzen konnten.
Die Schüler, deren Eltern einem Wechsel zu G9 zustimmten, verblieben in G8. Erst die nachrückenden Schüler wurden dann in G9 beschult.
Eine Entscheidung für den Schulalltag des eigenen Kindes konnten Eltern nicht treffen. Man kann sich die Motivation für die Teilnahme an der Entscheidung ausmalen.
Nach dieser Nebelkerze der Wahlfreiheit hörten die Beschwerden der Schüler und Eltern nicht auf.
Das Schulministerium NRW unter Frau Löhrmann begann, Expertenhearings und „Runde Tische“ zum Thema G8/G9 durchzuführen.
Dieser, als ergebnisoffen beworbene, Beratungsprozess führte zu Empfehlungen, die am Kern der Probleme von G8 wenig änderten.
Eine der ursprünglichen Forderungen, die Beibehaltung der Qualität des Abiturs, wurde jedoch geopfert.
Wenn zuletzt schon Hochschulen und Ausbildungsbetriebe die geringere Vorbildung der Abiturienten bemängelten, muss dieser Mangel nach den jüngsten Änderungen zwangsläufig wachsen.
Diese Änderungen sind im Wesentlichen:
· Tage mit verpflichtendem Nachmittagsunterricht sollen grundsätzlich hausaufgabenfrei sein.
· Die Arbeitszeit für Hausaufgaben soll begrenzt werden: für die Klassen 5 bis 7 auf maximal 60 Minuten, für die Klassen 8 bis 10 auf 75 Minuten.
· An Ganztagsschulen sollen Hausaufgaben künftig so integriert werden, dass möglichst keine schriftlichen Aufgaben mehr zu Hause erledigt werden müssen.
· In der Sekundarstufe I dürfen künftig nicht mehr als zwei Klassenarbeiten in einer Woche geschrieben werden. Pro Tag darf nur noch eine Klassenarbeit geschrieben oder eine mündliche Leistungsprüfung in modernen Fremdsprachen abgenommen werden. An Tagen, an denen Klassenarbeiten geschrieben werden, sind schriftliche Tests in anderen Fächern nicht mehr zulässig.
· In den Klassen 5 bis 7 ist verpflichtender Nachmittagsunterricht künftig grundsätzlich nur noch an höchstens einem Nachmittag, in den Klassen 8 und 9 an höchstens zwei Nachmittagen zulässig. Das gilt nicht für reguläre Ganztagsschulen.
· In Klasse 9 müssen derzeit alle Natur- und gesellschaftswissenschaftlichen Fächer unterrichtet werden, um eine Wahlentscheidung für die Oberstufe zu erleichtern. Diese Bindung wird aufgehoben.
· Ergänzungsstunden dienen künftig ausschließlich der individuellen Förderung. 5 der insgesamt 12 Ergänzungsstunden sind nicht für alle verpflichtend.
· Es wird die Möglichkeit eingeführt, nach Klasse 9 am Gymnasium eine Nachprüfung abzulegen, die einem Hauptschulabschluss gleichkommt. Bereits zum laufenden Schuljahr sind die Möglichkeiten für Nachprüfungen erweitert worden.
· In der Oberstufe sind Vertiefungskurse zur individuellen Förderung vorgesehen, sodass auch hier Lernzeiten künftig stärker in den Unterricht integriert werden.
Der Anspruch, dass G8 nicht zu einer Entwertung des Abiturs führen darf, wurde nicht erfüllt.
Die Folgen der rot-grünen Schulpolitik in NRW werden langfristig wirken.
– Auf die Wirtschaft in NRW, die sich mit der Forderung nach G8 einen Bärendienst geleistet hat.
– Auf die Schüler und späteren Erwachsenen in NRW, in deren Entwicklung und Reifung folgenreich eingegriffen wird.
– Auf die Gesellschaft in NRW. Können Schüler, die fremdbestimmt aufwachsen und wenig Freiräume zur Selbstidentifikation haben, zu Erwachsenen werden, die unsere Gesellschaft verantwortlich, vielfältig und nachhaltig tragen und mitbestimmen?
Einen anderen Ansatz für die Lösung der Frage von Schuldauer und Schulqualität haben wir PIRATEN in NRW schon seit Jahren aufgezeigt und auch im Landtag in die Debatte eingebracht.
Das Bildungskonzept der PIRATEN NRW zeigt ein solches Modell auf. Wir nennen es „fließende Schullaufbahn“. Dies schließt unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten mit ein und die Frage der Lerndauer, also G8 oder G9, wird dadurch überflüssig.
Im Mai 2014 noch schrieb Monika Pieper, MdL der Piratenpartei und bildungspolitische Sprecherin der Piratenfraktion NRW, über die Vereinbarkeit beider Modelle.
Ihr Placet zum Thema: G8 oder G9 – wir sagen JA!
Diese Vision von Schule werden wir PIRATEN weiterhin in die öffentliche Diskussion einbringen.
Manfred Schramm ist Politischer Geschäftsführer der Piratenpartei NRW.
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