Ein Gastbeitrag von Wilk Spieker, Dipl. Sozialpädagoge (FH), Koordinator für den AK Bildung NRW
Es hat einige Tage gedauert, bis mir klar wurde: Viele politische Entscheidungen im Bildungsbereich unseres Landes Nordrhein-Westfalen (NRW) und fast alle Entscheidungen, die irgendwie mit dem Totschlagargument „der demografische Wandel …“ versehen waren, können wir nun getrost entsorgen.
Überwältigt bin ich, und da stehe ich sicher nicht alleine da, von der Courage, die unsere Zivilgesellschaft aufbringt, die große Zahl an Geflüchteten zu begrüßen. Ich bin stolz auf Euch! Nachdem nun aber die Zahlen der Geflüchteten vom Kurzzeitgedächnis ins Langzeitgedächnis gewandert sind, ist mir die Tragweite der Fehlentscheidungen im Bildungsbereich der letzten Jahre bewusst geworden.
Ich mache keinem Politiker Vorwürfe, denn die veröffentlichten Zahlen bezüglich unseres Aussterbens (Stichwort: Demografischer Wandel) gingen seit Jahren durch die Medien. Vielerorts sank die Zahl der Kinder dramatisch, Klassen konnten nicht mehr gebildet werden oder nur unter Sondergenehmigung der Bezirksregierung, Schulen mussten geschlossen werden, Schulsozialarbeit wurde deutlich eingeschränkt, von den Herausforderungen der Inklusion ganz zu schweigen. Ich würde aber den Politikern einen Vorwurf machen, wenn sie jetzt nicht das Ruder rumreißen.
Denn wenn wir nicht nur in der Zivilgesellschaft geflüchtete Menschen willkommen heißen wollen, sondern auch in der Politik, dann müssen viele Entscheidungen getroffen werden, die richtungsweisend sein müssten für ein „Willkkommen 2.0“. Es wird der Moment kommen, an dem sich die Zahl der Neuankömmlinge verringern wird, wo erste Asylverfahren zum Abschluss gebracht werden und Familien wirklich nach langer Flucht zur Ruhe kommen.
Wir können natürlich nicht sagen, wie viele Kinder in den nächsten Monaten eingeschult werden müssen oder in die Kita gehen, es gibt keine Zahlen. Eine bloße Schätzung sei aber erlaubt: Ich gehe von 1 Millionen Geflüchteten im Jahr 2015 aus. Werden diese nach Einwohnerzahl auf die Bundesländer verteilt, so würden wir ca. 200.000 Menschen in NRW erwarten. Wie viele Kinder darunter sind, kann natürlich auch keiner sagen. Gehen wir von nur einem Kind im schulpflichtigen Alter pro fünf Geflüchtete aus, so müssen in NRW 40.000 Kinder in diesem oder nächstem Jahr eingeschult werden. Da sprechen wir von 1.600 Klassen zusätzlich.
Aber das ist nicht das größte Problem!
Die in letzter Zeit sehr vernachlässigte Schulsozialarbeit wird bis an ihre Grenze gefordert werden. Die Kinder haben eine monatelange Flucht hinter sich und sind alle traumatisiert. Bei vielen wird sich eine PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung) entwickeln, von den sprachlichen Barrieren ganz zu schweigen.
Unsere Willkommenskultur wird also gefordert sein. Wir haben aber nun die Chance, Fehler der Vergangenheit zu korrigieren: Die Wertschätzung der pädagogischen Berufe anerkennen und die Löhne anheben. Mehr Schulsozialarbeiter einstellen, Inklusionsassistenten und Integrationsassistenten in ihrer beruflichen Qualifikation endlich zu unterstützen und die Anzahl deutlich zu erhöhen, Quereinsteigern den beruflichen Umstieg in diese Bereiche zu erleichtern.
Wenn wir dies schaffen und zusätzlich noch viele geeignete Therapieplätze in den nächsten Monaten aufbauen, dann wäre ich wirklich stolz auf unser Land! Eine echte Willkommenskultur bietet die Chance, dass junge Menschen schnell integriert werden, sich in unserem Land wohl fühlen und sich die Lücken des „demografischen Wandel“ für immer schließen.
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