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Eröffnungsrede LPT 15.2 – Patrick Schiffer – 24. Oktober 2015

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Patrick Schiffer - Foto: CC-BY-NC SA Melanie MP
Patrick Schiffer – Foto: CC-BY-NC SA Melanie MP

Liebe Piraten,
sehr geehrte Gäste,
sehr geehrte Journalisten,
liebe Zuschauer im Stream!

Herzlich Willkommen in Aix la Chapelle, das ist der französische Name für Aachen, dessen Herkunft aus dem Lateinischen stammt und auch Aquis Granni genannt wird, was soviel heisst wie „bei den Wassern“. Der Namenszusatz Granni geht auf den keltischen Wasser- und Bädergott Grannus zurück. Als Badeort und aufgrund der vielzähligen heißen Quellen, die in Thermen gefasst waren, war die Gegend um Aachen schon bei den Legionären aus Rom sehr beliebt.

Herzlich Willkommen also – in Oche – wie der Öcher, der hier lebende Ureinwohner sich selbst in seinem Dialekt „Öcher Platt“ nennt. Ich bin ein Aachener – isch bin ene Öcher! Ich selbst habe hier von 1986 bis 2003 gelebt, bin hier zur Schule gegangen und habe hier im Anne-Frank-Gymnasium mein Abitur gemacht.

Wenn ich euch fragen würde, was euch zu Aachen einfällt, würdet ihr wahrscheinlich so etwas antworten wie Printen, Technische Hochschule, Nähe zu Holland/Belgien; Pferdefreunde würden den CHIO nennen und diejenigen, die in Geschichte aufgepasst haben, würden Karl der Große sagen oder eventuell auch den Karlspreis nennen, der jährlich für Verdienste um die europäische Einigung verliehen wird.

Mit der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH), die seit 2007 im Rahmen der Exzellenzinitiative gefördert wird, verfügt die Stadt Aachen über eine der größten und traditionsreichsten technischen Universitäten Europas, an der ich übrigens mal ca. 2 Jahre erfolglos Bauingenieurwesen studiert habe. Maastricht hatte da etwas mehr Geduld mit mir, wo ich letztlich meinen Abschluss an der Kunstakademie geschafft habe.

Die Stadt Aachen ist bekannt für ihre bis in die Jungsteinzeit zurückreichende Geschichte und ihr damit verbundenes kulturelles, archäologisches und architektonisches Erbe. Wenn hier etwas gebaut wird, buddelt immer ein Archeologe mit und teilweise ziehen sich Baustellen über mehrere Jahrzehnte hin, weil immer wieder etwas gefunden und dann behutsam geborgen werden muss.

Der Dom, das Wahrzeichen der Stadt, und der Domschatz wurden 1978 als erstes deutsches Kulturdenkmal und zweites Kulturdenkmal weltweit in die Welterbeliste der UNESCO aufgenommen. Die direkte Umgebung von Aachen ist die sogenannte Euregio Rhein Maas, die Europaregion im Grenzraum Belgien/Deutschland/Niederlande um die Städte Aachen, Lüttich und Maastricht mit den Wäldern der Eifel, des Hohen Venns und den Ardennen. Diese Gegend hier ist jede Reise wert, das könnt ihr mir glauben.

Und wo wir gerade bei Geschichte sind und unseren Landesparteitag im Anne-Frank Gymnasium verbringen, möchte ich auf Anne Frank zu sprechen kommen, denn ihre Geschichte ist zu diesen Zeiten aktueller denn je! Anne war Flüchtling. Anne war Jüdin. Und Anne musste sich vor den Nazis verstecken, um nicht der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie zum Opfer zu fallen. Was ihr leider nicht gelang. Anne Frank machte Station hier in Aachen, auf ihrer Flucht in die Niederlande.

Als die NSDAP am 13. März 1933 – wenige Wochen nach Hitlers Machtergreifung – bei der Kommunalwahl in Annes Geburtsstadt Frankfurt am Main die Mehrheit erreichte, kam es sofort zu antisemitischen Demonstrationen. Annes Vater Otto Frank sah große Probleme auf seine Familie zukommen, und die Eltern fragten sich besorgt, was wohl passiere, wenn sie weiter in Deutschland blieben und noch in diesem Jahr zog Annes Mutter mit den Kindern nach Aachen, wo sie einige Monate blieben, bevor sie letztlich nach Amsterdam zogen und die furchtbare Geschichte, wie sie es in ihrem Tagebuch beschrieben hat, ihren Lauf nahm.

Einige Parallelen zur jetzigen Zeit machen mir Angst. Flüchtlinge, die hier nach Deutschland kommen, haben Erfahrungen wie Anne machen müssen: Folterung, Verfolgung, Verletzungen, Bedrohung, Todesangst, womöglich haben sie noch engste Familienmitglieder durch Bomben oder auf der lebensgefährlichen Flucht verloren. Sie kommen nach hier und erleben plötzlich, dass gegen sie demonstriert wird.

Heute werden in Köln unter dem Namen Hogesa – Hooligans gegen Salafisten – wieder Menschen demonstrieren und ihre plumpen Parolen gelten nicht alleine radikalen Religionsfanatikern. Diese populistischen Gruppierungen wie die CSU, Pegida, AfD, Dügida, sogenannte besorgte Bürger oder gestern erst gelesen: „überforderte Bürger“ – hey, ich bin auch immer mal wieder überfordert, aber ich zünde deswegen noch lange keine Unterkünfte an! Diese Leute kennen nicht mal ihre Nachbarn und reden von Überfremdung. Das ist doch alles ein schlechter Scherz! Aber es ist gefährlich, sehr gefährlich. Und sehr unmenschlich.

Wir dürfen vor diesem dummen Hass nicht die Augen verschliessen. Wir dürfen das nicht unterschätzen und müssen Flagge zeigen! Wir stellen uns dem entgegen und sagen: Stop, wir sind Piraten und lassen euch nicht gewähren. Punkt! Und für Menschen, die solche Fragen stellen wie „Ich habe gehört, wir müssen bald mit arabischen Zahlen rechnen!“ empfehle ich an dieser Stelle mal den sehr interessanten Blogpost von Enno Lenze mit dem Namen „FAQ für besorgte Bürger“.

Wir müssen natürlich auf der politischen Ebene, im Stadtrat oder Kreistag mit den auftretenden Problemen offen umgehen und sie diskutieren. Wir müssen nach Lösungen für die Unterbringung und Integration der hier ankommenden Menschen suchen, und dazu gehören sicher keine Mauern, Grenzzäune oder Transitzonen. Wir haben genug Platz, man muss dafür eben was tun! Dazu gehört es dann auch mal, von der Verwaltung und der Politik unbürokratische Maßnahmen einzufordern. Ungewöhnliche Zeiten erfordern ungewöhnliche Taten!

Auf der Aufstellungsversammlung in Meinerzhagen Anfang 2013 habe ich eine wütende Kandidaturrede über die europäische und auch die deutsche Asylpolitik gehalten. Und es macht mich unendlich traurig und wütend, dass immer noch Schutzsuchende ertrinken. Täglich. Ich weiss, dass viele von euch, im Saal und vor dem Stream, sich stark für die Schutzsuchenden in den Kommunen einsetzen und engagieren. Auch alle unsere Landtagsfraktionen haben bereits 2012 und 2013 erkannt, dass frühzeitig mit politischen Entscheidungen Lösungen herbeigeführt werden müssen, da sich die Konflikte in der Welt mehrten und die grossen Lager in Jordanien, im Libanon und in der Türkei täglich grösser wurden. Weil wir über den Tellerrand hinausschauten, wussten wir, dass es mehr Flüchtlinge werden. Das alles war absehbar! Leider hat niemand auf uns gehört und jetzt haben wir den Salat. Aber es zeigt, dass wir mittlerweile nicht mehr alleine Politik aus Notwehr machen, sondern auch Politik zur Schadensbegrenzung! Auch in vielen anderen Politikfeldern. Politik muss gestalten, sonst wird sie von den Ereignissen und Entwicklungen an die Wand gedrückt, wie man aktuell auch in Nordrhein-Westfalen gut beobachten kann.

Eine Kraft-Kohle-Koalition begreift nicht, dass fossile Energieträger ein Auslaufmodell sind und die Grünen freuen sich über ein paar Meter Raumgewinn. Ein Trauerspiel. In der engagiertesten Debatte über die Legalisierung von Cannabis EVER! ziehen die Grünen den Schwanz ein. Ein Witz. Freifunk haben wir angestossen, Rotgrün hat mitgemacht und was ist bisher passiert? Nichts. Anfang des Jahres hat Hannelore Kraft eine sogenannte Digitale Agenda angekündigt. Seifenblasen!

Wir Piraten müssen für Recht und gegen Unrecht kämpfen. Wir müssen uns zur Menschlichkeit und zu den Grundrechten bekennen. Jeden Tag. Denn unser Bekenntnis zur Menschlichkeit ist der Schlüssel zur Bewahrung der Demokratie. Unsere Empathie und unser Mitgefühl geben diesen Menschen Hoffnung und Kraft, an dieser Gesellschaft mitzuwirken und sie zu verbessern. Unser Kampf für Grundrechte stärkt die Gesellschaft, auch wenn sie es selbst momentan noch nicht merkt.

Wenn in der heutigen Medienlandschaft – Stichwort Jauch – kaum noch politische oder gesellschaftskritische Kontroversen ausgetragen werden, sondern nur scheinbar alternativlose Allgemeinplattitüden ausgetauscht werden, auf die sich dann der fehlinformierte Empörungsbürger stürzen kann, dann ist ein Punkt erreicht, an dem spätestens unsere Enkel einmal fragen werden: „Und ihr habt nichts mitbekommen?“

Unsere Großeltern hatten nicht die Möglichkeiten des Internets für ihren Widerstand, diese Menge an Informationen und diese Tiefe der Vernetzung. Die Folge war ein Europa überziehender Faschismus und Krieg. Heute haben wir es mit einer ungezügelten Finanzindustrie zu tun, die mittlerweile in alle Lebensbereiche eingreift. Die schleichende Infiltration dieses neoliberalen Gedankenguts wird den gewachsenen Demokratien einen schweren Schaden zufügen. Waffen werden weiter in Diktaturen exportiert, Grundrechte werden noch heftiger ausgehöhlt und teilweise abgeschafft, unsichere Herkunftsländer zu sicheren Herkunftsländern erklärt, Gewerkschaften gleichgeschaltet, die Netzneutralität soll abgeschafft werden, Mitbestimmung, Transparenz, direktere Demokratie? Fehlanzeige!

Dieser Schaden ist bereits jetzt überall sichtbar! Wir müssen unbequem bleiben – ja, noch unbequemer werden und uns mit allen Kräften wehren. Wir dürfen nicht gehorsam sein, wir müssen Fragen stellen, böse Fragen, unbequeme Fragen. Wir sind eine junge Partei, die frech, kritisch und aufgeklärt hinterfragen sollte, ja hinterfragen muss! Gehorsam ist scheisse! In letzter Konsequenz führt Gehorsam politisch zu Autorität, Faschismus und Gewalt.

Und deshalb fordere ich euch dazu auf, einen Neustart in diesem Landesverband zu wagen. Wir brauchen eine neue Kultur des Miteinanders, eine neue Form der Selbstreflektion und eine noch grössere Konzentration auf den Angriff in Richtung des politischen Gegners. Ich möchte euch einen Aufbruch vorschlagen, der den Menschen zeigt:

Wir haben verstanden, dass wir uns nicht länger um uns selbst drehen dürfen.

Wir haben verstanden, dass wir durch Beliebigkeit und Inkompetenz ausserhalb unserer Kernthemen viele unserer Stammwähler vergrault haben.

Wir haben auch verstanden, dass wir aktuell zu bieder und zu langweilig daherkommen.

Wir haben verstanden, dass wir eine Partei attraktiv und modern gestalten müssen, damit sie lebhaft bleibt.

Wir haben verstanden, dass wir ehrenamtliche Arbeit wertschätzen und honorieren müssen.

Und wir haben verstanden, dass wir viele unserer Wahlversprechen bisher schuldig geblieben sind.

Wir haben es verstanden und es tut uns leid, dass wir es nicht geschafft haben, die hohen Erwartungen an diese junge und unerfahrene Partei zu erfüllen.

Aber wir arbeiten weiter hart daran, besser zu werden. Und wir rufen alle diejenigen dazu auf, die Interesse an ehrlicher Politik haben, uns dabei zu helfen. Ich würde mich freuen, wenn wir alle diesen Landesparteitag dazu nutzen, zu diskutieren, wir wir diesen gemeinsamen Aufbruch, diesen gemeinsamen Neustart und diese Verbesserungen zusammen bewältigen können. Eure Ideen sind gefragt! Lasst uns eine Debatte darüber führen, was wir ändern müssen und wie dieser Neustart aussehen könnte.

Ich bin fest davon überzeugt, dass wir es gemeinsam schaffen können, wieder auf die Erfolgsspur zu kommen und die Menschen davon überzeugen können, was für geile Politik wir machen. Lasst uns die Piratenpartei NRW neu erfinden. Es wird höchste Zeit!

Ich wünsche uns allen einen konstruktiven, diversen, lebhaften und auch reflektierten Landesparteitag. Hiermit eröffne ich den Landesparteitag. Ich danke euch.

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