Dreifacher Eklat im Landtag:

„Die Grünen haben sich bis zur Unkenntlichkeit verbogen.“, „NRW-Piraten lassen Abgeordnete bei Abstimmung filmen“ und „Die Piraten sprechen von einer „Entgleisung“ der Landtagspräsidentin.“ … schrieben die Medien.

Es ist etwas passiert im Landtag. Die Grünen haben einmal mehr deutlich gegen ihre mutmaßlichen Überzeugungen gehandelt und abgestimmt. Das ist schlimm, aber wir kennen das. Die PIRATEN haben im Plenum gefilmt. Auch das ist nicht neu und auch nicht unüblich.

Doch was mich wirklich trifft und wütend macht, ist, dass es im Landtag zunehmend üblich wird, die kleinste – wohl unbequeme, aber in jeder Hinsicht unfaschistische – Oppositionsfraktion mit dem Hinweis auf „die deutsche Geschichte“ und eindeutigen Nazivergleichen zu brandmarken, um dann undemokratische Exempel statuieren zu können.

Anstatt mit Offenheit, niedrigen Hürden und Transparenz faschistische Argumentationsketten zu zerbrechen, zerlegt sich im Landtag die freiheitliche parlamentarische Demokratie im vorauseilendem Gehorsam vor möglichen Wahlergebnissen selbst. Und das möchte ich gerne verhindern. Aufwachen! Bitte! Transparenz denunziert nicht und nicht jedes Systemupdate ist ein Trojaner.

Vorneweg vergreifen sich die Mitglieder des Landtagspräsidiums, vergangene Woche die Landtagspräsidentin selbst, massiv mit ihren Worten. Wiederholt fällt es dem Präsidium schwer, die gern zitierten Lehren aus der Geschichte richtig einzuordnen – und das, obwohl ein vom Präsidium selbst in Auftrag gegebenes Gutachten ganz klar zeigt, wie die Handlungen der Nazis die Demokratie gefährden und die Handlungen der PIRATEN im Gegenteil die Transparenz fördern. Hier gibt es keine Parallelen aber anscheinend viel, was eine Landtagspräsidentin falsch machen kann.

Die Äußerungen der Abgeordneten der SPD und der Grünen machen dann auch deutlich, worum es eigentlich geht: An den PIRATEN sollen die Hürden, die Verbote und Knebel erprobt werden, die man sich für rechte Parteien ausdenkt, die man im Parlament erwartet. Nach dem anfänglichen Transparenz-Aufbruch, den die PIRATEN 2012 in den Landtag brachten und den die anderen Fraktionen – als die Umfragewerte der PIRATEN noch besser waren – unterstützt hatten, folgt nun seit einigen Monaten schrittweise ein unsäglicher Demokratieabbau im Parlament. Interne Hürden werden aufgebaut, Protektionismus wird erprobt. Man ebnet den rechten Parteien den Weg und denkt nicht daran, dass man eines Tages auch als SPD oder Grüne einmal auf der anderen Seite der Hürden sitzen könnte. Das ist gefährlich.

Ihr glaubt mir nicht?

Dann beginne ich noch einmal von vorne, beim ersten Eklat:

Die Grünen handeln gegen ihr Programm

Ob sich Die Grünen nun „bis zur Unkenntlichkeit verbogen“ und ihre „Ideale verraten“ haben oder ob es von Anfang an der Plan war, in der Regierung wesentliche „grüne“ Schwerpunkte zu ignorieren – ich weiß es nicht. Viele Wählenden dürften jedenfalls erwartet haben, dass Die Grünen in Sachen Braunkohle, Cannabis, Flughäfen, Verkehrswende und Klimawandel im Landtag anders agieren; nämlich so, wie sie es auf den grünen Wahlplakaten schreiben und auf zahlreichen Veranstaltungen erzählen.

Selbst das einsame Leuchtturmprojekt der Grünen gegen den Klimawandel, der NRW-Klimaschutzplan, ist ein äußerst zahnloser Tiger. Denn er verpflichtet die anderen Ministerien zu… nichts. Als der Klimaschutzplan erstmals in ein großes landesbedeutsames Projekt, den Landesentwicklungsplan (LEP), hätte einfließen können, zog sich die Landesregierung wiederum auf Unverbindlichkeiten zurück und strich die meisten „grünen“ Maßnahmen in einer Überarbeitung anschließend komplett.

Das Ministerium für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr hat bisher den Klimaschutzplan ignoriert, obwohl hier das größte Potential liegt. Die wichtige Verkehrswende haben die Grünen in sieben Jahren nicht anstoßen können. Sitzung für Sitzung habe ich als PIRAT für die Verkehrswende und den Ausbau des ÖPNV argumentiert und sah CDU und FDP den Minister für seine autogerechte Politik loben. Die Grünen hielten sich weitgehend raus. Im Januar 2017 stimmten sie sogar für den Einsatz von Gigalinern in NRW. Zu Fluglärm und Flughäfen haben Die Grünen inzwischen das Wort ergriffen, sie bleiben aber im Plenum an der Seite der SPD und handeln nicht. Hier sind die Grünen und die NRW-Regierung im siebten Jahr völlig ohne Konzept; allerdings nicht ohne Anträge der PIRATEN.

Im Januar 2017 folgte der letzte einer Reihe verschiedener Anträge der PIRATEN zum Thema Cannabis. Hier konnten sich Die Grünen noch nicht einmal dazu überwinden, ihren kommunalen Mandatsträgern in den Gemeinden zu helfen, in absehbarer Zeit Modellprojekte durchführen zu können. Den Antrag „Das Land NRW muss die Freigabe von Cannabis in lizenzierten kommunalen Abgabestellen unterstützen!“ lehnten Die Grünen folglich ab. Auch diese namentliche Abstimmung – es wird eindeutig notiert, wie jedes Mitglied des Landtags abstimmt – wollten PIRATEN filmen. Sie kamen nicht dazu, weil die Landtagspräsidentin Formfehler feststellte: Es wurde vom falschen Ort aus gefilmt. Es ist aber auch so bekannt geworden, dass Die Grünen im Landtag nicht das erfüllen, was sie anderswo laut fordern und versprechen.

Es ist eventuell tatsächlich zu viel verlangt, Oppositionsanträgen zuzustimmen, aber diese dienen natürlich auch dazu, die Regierungsfraktionen auf Möglichkeiten hinzuweisen und diese Möglichkeiten haben Die Grünen in keinster Weise genutzt – weder für eigene parlamentarische Initiativen, noch für die Arbeit mit den Ministerien.

Von sieben Jahren Rot-Grün bleibt am Ende nur die Braunkohle. Die grüne Basis dürfte schmerzen, dass während der grünen Regierungszeit der Schwarzbau Datteln IV (Steinkohlekraftwerk) genehmigt wurde, noch viel schlimmer sieht es aber bei der Braunkohle aus: NRW hat massiv beim Bund lobbyiert, um die Braunkohle und die dazugehörigen Kraftwerke zu erhalten – zum Schaden der Wirtschaft, des Klima- und Umweltschutzes und der Menschen in NRW.

Es geht wohl auf das Konto der Grünen, dass Garzweiler verkleinert wurde. Das war sowohl eine ökologische als auch ökonomische Notwendigkeit, jedoch nur ein kleiner Schritt. Ohne Die Grünen wäre aber wohl die SPD selbst zu diesem vor allem wirtschaftlich wichtigen Schritt nicht bereit gewesen.

NRW braucht jedoch ein Braunkohleausstiegsgesetz – wie von PIRATEN laufend gefordert – und einen Plan. In den letzten Jahren ist an dieser Stelle nichts passiert und das ist ein deutliches Versagen beider Regierungsfraktionen, unter dem NRW noch zu leiden haben wird.

In dem „Skandal-Antrag“ der PIRATEN im Februar-Plenum ging es allerdings nichtmals um einen Braunkohlestopp. Es ging darum, dass für die Braunkohle die Ewigkeitskosten abgeschätzt werden müssen; schon allein, um das Risiko für RWE und NRW zu kennen. Wir PIRATEN forderten ein „Unabhängiges Gutachten zur Kostenschätzung der gesamten Folgekosten der Braunkohle“; es wurde im Ausschuss diskutiert; es gab eine Anhörung; die Anhörung bestätigte den Politikern die Notwendigkeit eines solchen Gutachtens.

Es gab genug Zeit für Die Grünen sich zu positionieren, eigene Ideen und Anträge einzubringen oder ein Ministerium dazu zu bringen, das Gutachten anzugehen. Nichts davon ist passiert. Das ist den Grünen zu Recht peinlich. Es ist peinlich, dass es überhaupt dazu kommen musste, dass sich Die Grünen in einer öffentlichen und namentlichen Abstimmung gegen die Transparenz bei den Folgekosten der Braunkohle positionieren mussten.

Die Grünen sagen, sie könnten Anträgen mit Spaltungspotential grundsätzlich nicht zustimmen. Aber vier Jahre Braunkohle-Anträge der PIRATEN und eine lange Beratungszeit des Antrags zu den Braunkohle-Folgekosten hätten wirklich genug Gelegenheiten geboten, die Sache dann auf eigene Weise einzubringen. Wenn es die Grünen in sieben Jahren Regierungszeit nicht einmal schaffen, die Frage der Folgekosten der Braunkohle zu klären – einer Frage, die auch Braunkohlebefürworter interessieren sollte, dann muss die Frage nach dem Sinn der Grünen gestellt werden. Zumindest will ich wissen: Wann – liebe Grünen – hattet Ihr vor, das Thema anzugehen? Wann hattet Ihr vor, all diese oben genannten dringenden Themen anzugehen? Erst, wenn die CDU-Politik a la Fukushima von der Realität eingeholt wird?

Aktuell erreichen Die Grünen in der Regierungskoalition nicht mehr als wir PIRATEN in der Opposition. Akzente werden gesetzt, einzelne Anträge durchgebracht, kleine Erfolge erzielt, aber wenn es wirklich wichtig wird, werden sie abgebügelt und im Gegensatz zu uns, bemühen sie sich noch nicht einmal mehr, inhaltlich zu wirken.

Was nicht nur Die Grünen vergessen: Das Wirken in festen Koalitionen ist so bequem wie problematisch, aber nicht alternativlos. Mehrheiten, die es im Parlament und in der Bevölkerung für Themen gibt, müssen genutzt werden. Das Regieren mit wechselnden parlamentarische Mehrheiten haben Dr. Christian Stecker und Dr. Thomas Däubler vom Mannheimer Zentrum für europäische Sozialforschung sowie Dr. Steffen Ganghof von der Universität Potsdam international untersucht und auch auf Landtage in Deutschland übertragen. Sie zeigen ein international erprobtes parlamentarisches System auf, vor dem Die Grünen keine Angst haben sollten. Ich möchte nicht verschweigen: es wäre auch ein System, in dem PIRATEN Regierungsverantwortung übernehmen könnten.

PIRATEN filmen im Plenarsaal

PIRATEN wollten die Debatte zum Folgekosten-Antrag und auch die namentliche – d. h. öffentliche und mit den Namen der Abgeordneten festgehaltene – Abstimmung mit Bildmaterial dokumentieren. Die vorherige filmische Dokumentation der Cannabis-Debatte der PIRATEN im Januar wurde abgebrochen: Die Kamera hatte sich nicht auf dem dafür vorgesehenen Platz befunden – befand die Landtagspräsidentin. In der Praxis nutzen Presse und Fraktionen die komplette Tribüne für Aufnahmen.

Die PIRATEN wollten keinen Skandal mit Filmaufnahmen provozieren, also tat der Fotograf und Video-Producer alles, um die Regeln des Landtags einzuhalten. Es wurde ausschließlich von den dafür vorgesehenen Plätzen gefilmt, alles war angemeldet, besprochen und abgenommen.

Filmaufnahmen aus dem Plenum sollten – sofern keine geheimen Abstimmungen stattfinden – für Parlamentarier kein Problem sein. Sie dienen der Transparenz und der Dokumentation. Alles, was die Mitglieder des Landtags tun, tun sie öffentlich. Ich bin nicht überzeugt davon, dass es für die Demokratie und den Parlamentarismus besser wäre, wenn demnächst Gerichtszeichner die Situationen im Landtag darstellen müssen.

Selbstverständlich greifen auch PIRATEN gern auf den Livestream aus dem Plenum zurück. Gerne hätten wir auch einen Livestream für jede Anhörung und jede Ausschusssitzung – aber obwohl dies technisch nach dem Einzug der PIRATEN ins Parlament möglich wurde, tun sich die anderen Fraktionen mit dieser Form der Öffentlichkeit und Transparenz noch schwer.

Im Plenum diente der offizielle Landtags-Livestream der Landtagspräsidentin als Argument gegen unsere Aufnahmen. Doch wenn es wichtig wird, dann liefert der Livestream leider nicht die gewünschte Zuverlässigkeit, er fällt hin und wieder aus oder hat Tonprobleme. Die Aufnahmen stehen nicht sofort zur Verfügung und – ganz wichtig – der offizielle Livestream des Landtags ist nicht neutral! Wenn die Präsidentin sagt „filmen Sie von Michele Marsching nicht das T-Shirt“, dann sieht man im Livestream nur den Kopf. So neutral ist der Stream. So neutral ist die Landtagspräsidentin, die den PIRATEN am 15. Februar offiziell und einseitig die Freundschaft kündigte.

Darüber hinaus zeigt der Livestream im Wesentlichen die Redenden und das Präsidium. Zwischenrufe oder für den Parlamentarismus durchaus wichtige Situationen im Plenarsaal werden vom Livestream leider äußerst unzureichend erfasst. Dem wollte der Fotograf der PIRATEN vorbeugen. Er wollte den Stream um eigene Bilder ergänzen.

Was folgte, war ein weiterer Eklat: Die Grünen erhoben laut Einspruch und beantragten die Unterbrechung der Sitzung. Der Fotograf der PIRATEN wurde der Tribüne verwiesen und bekam Beschimpfungen mit auf den Weg. Die Speichermedien mussten der Präsidentin ausgehändigt werden.

Dies alles geschah mit zweifelhafter Argumentation aber unter großem Applaus der Fraktionen der Grünen, SPD, CDU und FDP. Ein trauriger Eklat.

Im Plenarsaal empörten sich Die Grünen, wie wir das tun könnten, PIRATEN ständen doch nur bei 1%, würden aber „uns allen hier“ schaden. Das mag der Grund für die Eskalation gewesen sein: Die augenscheinlich unwichtige Partei bedroht Mandate der Grünen.

Der wirklich große Eklat jedoch ist die Begründung der Landtagspräsidentin und dass niemand aus den anderen Fraktionen ihr offen widersprochen hat.

Die Landtagspräsidentin öffnet die Dämonentore

Landtagspräsidentin Carina Gödecke rief die Situation zum parlamentarischen Wendepunkt aus. Vorher hätte über viele Legislaturperioden ein gutes Miteinander geherrscht. Weil die PIRATEN aber am Morgen diese Filmaufnahmen als Fraktion angemeldet (!) hätten, sei ihnen das Miteinander offensichtlich nicht mehr so wichtig. Sie kündigte den PIRATEN die Freundschaft und stellte diesen Tag, diese Situation, an die Schwelle zwischen dem guten Miteinander über Jahrzehnte und dem, was folgen wird.

In der Aufzeichnung des Streams[1] kann man dies nachverfolgen. Sie ergänzt: „Und ich lasse nicht zu, dass über den Tag hinaus mit Blick auf kommende Legislaturperioden das, was einer guten parlamentarischen Sitte entspricht, von Ihnen so infrage gestellt wird.“ Es folgt der Applaus der anderen Fraktionen. Es verwundert, dass die Landtagspräsidentin ausgerechnet in angemeldeten Filmaufnahmen etwas nie-dagewesenes sieht, das die „parlamentarische Sitte“ mehr infrage stellt, als alles andere.

Wir PIRATEN erleben tatsächlich das gute Miteinander nicht mehr, seit unsere Umfragewerte schlecht aussehen. Die SPD kündigte es aus unserer Sicht bereits auf, als sie mit fadenscheinigen Gründen verhinderte, dass die Piratenfraktion im Sommer 2014 einen Sitz im Präsidium erhält. Die SPD verweigerte die Wahl eines Piraten-Vizepräsidenten. Das ist ein Novum, denn bislang – über viele Legislaturperioden – war es üblich, dass jede Fraktion im Präsidium vertreten ist. Nicht ohne Grund: Hier werden Aktuelle Stunden, Tagesordnungen und die Sitten des Hauses festgelegt, parlamentarische Prozesse begleitet und hier könnte auch ein Systemupdate seine federführende Hand finden.

Womöglich ergreift die Landtagspräsidentin die Chance des Eklats, um weitere Pflöcke „mit Blick auf kommende Legislaturperioden“ – wie sie selbst sagt – einzurammen. Und an dieser Stelle wird es hässlich und mehr als destruktiv. Das fiel auch einem Kommentator des WDR auf: „Landtagspräsidentin Gödecke von der SPD verglich das Vorgehen der Piraten gar mit den Methoden der Nationalsozialisten.“[2] WTF?

Die PIRATEN sind eine äußerst konstruktive Protestpartei. Nicht um des Störens willen machen wir manche Dinge anders als die anderen, sondern weil wir die Politik und die parlamentarische Kultur konstruktiv verändern wollen. Wir wollen keinen Umsturz und keinen Zusammenbruch. Wenn wir die anderen Fraktionen in ihrem Alltag nerven, dann erfüllt das einen brechtschen Zweck und soll wachrütteln und hin und wieder die Frage nach der Sinnhaftigkeit von Üblichkeiten stellen.

2012 fragten wir PIRATEN uns in den Parlamenten und in Blogbeiträgen, wie wir Debattenkultur gestalten müssen und wie wir sie verändern können. Wir wissen inzwischen, dass die sukzessive Arbeit an Veränderungen gerade bei Gegenläufigen Tendenzen wichtig und dennoch wirksam ist, aber sehr lange dauert und eine gewisse Unnachgiebigkeit fordert. Wir nehmen aber – zum Leidwesen von PR-Strategen – nicht die Brechstange, die schnell destruktiv wird. Unsere Intention bleibt stets erkennbar.

Das ist wichtig und führt uns zu einem Exkurs ins Plenum am 4. Dezember 2015. Am Rednerpult hatte ich den Zuschauenden und Abgeordneten zu Beginn meiner Rede einen komplexeren Sachverhalt erklären wollen. Vizepräsident Keymis unterbrach mich, mahnte Weimar an und das Präsidium beauftragte ein Gutachten[3], inwieweit Abgeordnete Besucher ansprechen dürfen. Das Gutachten sollte ausdrücklich mit Bezügen zur historischen Entwicklung arbeiten.

Durch die historische Gegenüberstellung im Gutachten wurde meine Rede – allein durch die kurze Ansprache der Zuschauenden – in den Kontext der Reden von Vertretern der NPD, KPD und NSDAP, u.a. Joseph Goebbels, gerückt. Diese dadurch gegebene implizite persönliche Unterstellung tauchte später in den Worten der Präsidentin am 15. Februar 2017 klar und unmissverständlich auf.

Das Gutachten weist allerdings deutlich darauf hin, dass die Intention entscheidend ist: Die NSDAP und faschistische Parteien streben eine Strategie des „Sands im Getriebe“ oder des „Zusammenbruchs der Kommunikationsstrukturen“ an, möchten das Volk vom Parlament entfernen und sie brechen die Regeln, um einfach nur zu polarisieren.

PIRATEN tun das Gegenteil. Wir wollen Regeln ändern statt pervertieren, dauerhaft den Parlamentarismus erhalten und dafür mit aktuellen Mitteln transparenter gestalten: Abschaffen wollen wir nur die Politikverdrossenheit.

Wir arbeiten hier an einer Weiterentwicklung und damit einer Stärkung des Parlamentarismus und der Demokratie. Das Gutachten spricht dabei von Errungenschaften und formuliert: „Hier ist auch ein Wertewandel zu berücksichtigen. Transparenz und Öffentlichkeit haben heute einen anderen Stellenwert als noch vor einigen Jahren.“ Das Gutachten zeigt, dass sich der Parlamentarismus ändern kann und weiter verändern muss und dass dies ein guter Prozess ist, den PIRATEN neu angestoßen und Abgeordnete anderer Fraktionen aufgenommen haben.

Nach Erscheinen des Gutachtens schrieb ich für die Piratenfraktion den Antrag „Das nordrhein-westfälische Parlament braucht eine fortschrittliche Debattenkultur, die den Erwartungen der Gesellschaft folgt.“[4] Der Redner der Grünen, Stefan Engstfeld, sagte in der Debatte am 21. April 2016: „Nicht Sie als Piratenfraktion stellen mit solchen Auflösungstendenzen des geübten Brauches eine Gefahr für unsere Demokratie dar. Aber nach Ihnen kommen vielleicht andere Parteien auch in dieses Parlament und berufen sich dann auf die von Ihnen schleichend benutzten und geduldeten neuen direkten Kommunikationsformen. […] Wehret den Anfängen!“

Das ist zunächst der falsche Schluss, weil die von den PIRATEN eingebrachten Tendenzen in die entgegengesetzte Richtung gehen, wie die des von Herrn Engstfeld auch zitierten rechten Abgeordneten im Schweriner Landtag. Die gefürchteten „Anfänge“ sind sicher nicht die von den PIRATEN angeschobenen Modernisierungen, Transparenz und Offenheit. Sie finden sich sehr viel eher im verkrusteten und aus fragwürdigen Üblichkeiten bestehenden System, das die Grünen verinnerlicht haben und nach außen tragen, wenn sie im Parlament weit abseits ihres Programms und ihrer Basis handeln. Das ist der Nährboden dieser „Anfänge“.

Es ist für die Demokratie sehr gefährlich, jetzt unter kuriosen Vorwänden am Beispiel der PIRATEN parlamentarische Hürden auf- und Beteiligungsmöglichkeiten abzubauen. Diese Maßnahmen treffen immer die Demokratie, aber eben selten die, die die nur stören wollen. Die schaffen das auch so, während funktionierende demokratische Prozesse im Zweifel nur sehr schwer wiederherzurichten sind. Vor allem dann, wenn die Macht über die Prozesse irgendwann verloren geht und die Hürden und Instrumente denen dienen, die man einst ausschließen wollte.

Die Worte der Landtagspräsidentin am 15. Februar 2017 waren und sind gefährlich. Nicht nur der oben zitierte WDR-Journalist wunderte sich über die Deutlichkeit ihrer Nazivergleiche. Im Video von WDR Aktuell[5] und in der Aufzeichnung des Landtagsstreams sagt Landtagspräsidentin Gödecke unter Anderem: „Zur politischen Einordnung will ich ein für alle Mal und unmissverständlich sagen, dass man aus der deutschen Geschichte wirklich gelernt haben sollte und dass Einschüchterungen und der Versuch der Einflussnahme auf Abgeordnete von Zuschauertribünen und von der Loge aus wirklich überhaupt nicht geht und ein demokratisches System schon einmal erheblich gestört hat.“

Sie und die Regierungsfraktionen werfen den PIRATEN Nazimethoden vor und stellen tatsächlich dar, das Filmen einer öffentlichen Plenarsitzung könne das demokratische System zu Fall bringen. Frau Gödecke und die parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Frau Beer, drücken die PIRATEN in eine Ecke, die den Aufbau der daraufhin angekündigten Hürden rechtfertigen soll.

Wiederholt wird den PIRATEN „Denunziantentum“ vorgeworfen. Auch das ist abwegig. Das Dokumentieren und Transparent-Machen einer namentlichen Abstimmung ist nicht denunzierend, weil sie im höchsten Maße öffentlich ist. Sie taucht nicht nur in Protokollen auf, sondern wird sogar grafisch aufbereitet auf Internetplattformen dargestellt.

Das Ausüben von Hausrecht, um angemeldete Aufnahmen zu verhindern, die Diffamierung einer Fraktion und die Entgleisungen bis hin zu Nazivergleichen sind selbst dann völlig unverhältnismäßig, wenn man hätte verhindern wollen, dass aus dem Bildmaterial anschließend beleidigende Grafiken erstellt werden. Die PIRATEN haben hier ganz sicher in der Vergangenheit kein schlechteres Bild abgegeben als die Mitfraktionen. Das Argument darf aber auch kein Ausschlag für prophylaktische Verbote und Nazivergleiche sein. Es zieht hier auch nicht das vom Präsidium inflationär gebrauchte Totschlagargument der „Gefährdung der Funktionsfähigkeit des Parlamentes“: Nein, Bilder aus dem Plenarsaal gefährden die Funktionsfähigkeit nicht.

Die Landtagspräsidentin und die Reaktionen mancher SPD-Abgeordneten dagegen zeigten, wie sich ein funktionsfähiges Parlament nicht verhalten sollte und wie das mit dem Denunzieren wirklich funktioniert. Selbst Ministerpräsidentin Kraft beteiligte sich an der Suche mutmaßlich schuldiger Mittäter auf der Tribüne – Leuten mit Handy, die weder gefilmt, noch fotografiert hatten.

Bei einer lautstarken Auseinandersetzung im Plenum, währenddessen im Stream leider kein Ton zu hören ist, warfen SPD-Abgeordnete den PIRATEN vor, Wegbereiter rechter Parteien zu sein. An dieser Stelle muss ich mich persönlich entschuldigen, denn ich habe sie angeschrien. Ich war wütend. Eine kuriosere Verdrehung der Tatsachen kann ich mir nicht vorstellen.

Alle wollen sie „unbequem“ sein – von den Grünen bis zum Bundespräsidenten – alle loben sich auf Parteitagen und in Ansprachen dafür, unbequem zu sein. Wenn es dann aber doch mal im Plenum ein ganz klein bisschen unbequem für die eigene Fraktion wird, weil einem die Kluft zwischen zugesagtem Anspruch und eigenem Handeln aufgezeigt wird, dann wird die unbequeme Piratenfraktion mit der ganzen Härte des Nazivergleichs überzogen. Das ist die aktuelle Situation im Landtag. Das ist der große Eklat.

Am Folgetag, dem 16. Februar 2017, gab es dann einen neuen Eklat um einen weiteren Antrag der PIRATEN, aber ganz ohne dass man uns die Schuld in die Schuhe schieben könnte. Es war ein Novum. Etwas, das geeignet gewesen wäre, das gute Miteinander in Frage zu stellen: Die Fraktionen der Grünen, CDU und FDP redeten nicht zu unserem Antrag. Das ist einmalig. Sie schwiegen. Das Thema war ihnen zu unbequem. Es ging um unerlaubte Fraktionszulagen.

Oliver Bayer MdL

[1] Ab 07:23:00 unter https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/Webmaster/GB_I/I.1/video/video.jsp?id=1005213

Auf YouTube unter https://www.youtube.com/watch?v=V-NxmBFL17s

[2] http://www1.wdr.de/nachrichten/streit-um-braunkohle-eskaliert-100.html

[3] Gutachten „Zulässigkeit der Kommunikation zwischen Abgeordneten und Besuchern während der Plenardebatte mit Bezügen zur historischen Entwicklung“

https://landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMI16-339.pdf

Anm.: Genaueres zur Beauftragung und die Hintergründe des Präsidiums sind der Piratenfraktion unbekannt, da sie aus dem Gremium ausgeschlossen wird und es keine öffentlichen Protokolle gibt.

[4] https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMD16-11689.pdf

Die Debatte: https://youtu.be/PQKQ2aJ8SZk

[5] http://www1.wdr.de/nachrichten/landespolitik/piraten-eklat-landtag-100.html

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